Immer öfter schummeln wir ganz elegant Fördergelder aus europäischen Fonds in unser Land herüber und spielen im Geiste Schwejks beim Krisentheater bestens mit: Ein Sittenbild aus dem Nachbarland.
Nirgendwo haben Hollywood-Produzenten größere Konkurrenz als hier bei uns in Tschechien. Und auch die größten Filmstars müssen sich zuweilen hinter den normalen Tschechen mit ihren Bierbäuchen verstecken, weil die bei uns mit viel Erfolg in Geschichten aus dem ganz gewöhnlichen Leben mitspielen. Kritiker dieser oft tragikomischen Filme rümpfen manchmal die Nase, weil sie ihnen langweilig und hinterwäldlerisch vorkommen.
Die Leute bei uns lieben diese Komödien aber oft mehr als amerikanische Kassenknüller – wohl weil sie sich wiedererkennen. Bei uns spielen sich eher die undramatischen Geschichten ab, über die man jenseits der Grenzen kaum etwas mitbekommt. Mir kommt es aber so vor, dass in Böhmen und Mähren gerade eine Komödie gedreht wird, die auch anderswo in Europa die Menschen interessieren könnte.
Einen bestimmten Drehbuchautor gibt es nicht; wir schreiben alle kollektiv am Skript, und das klappt ganz vorzüglich. Die genialsten Tschechen sind nämlich schon längst keine „Putzflecken“ mehr, die sich wie der brave Soldat Schwejk in Haseks Roman mit dem Verkauf geklauter Hunde ernähren.
Keine Angst vor Deutschland
Nein, wir haben jetzt endlich einen eigenen Staat, in dem wir in aller Freiheit leben können. Wir haben uns entwickelt und emanzipiert. Und nicht einmal vor Deutschland haben wir mehr Angst, schließlich sind wir mit unseren westlichen Nachbarn ökonomisch eng zusammengewachsen. Und unseren eigenen, vertriebenen Deutschen bauen wir gerade sogar ein Museum in Ústí nad Labem/Aussig an der Elbe.
Wir haben auch schnell herausbekommen, wie die Dinge im Ausland laufen. Immer öfter schummeln wir ganz elegant Fördergelder aus europäischen Fonds in unser Land herüber. Wir können bereits teurere Autobahnen bauen als die Deutschen, obwohl unsere Bauarbeiter viel weniger verdienen. Wir haben es gelernt, unsere Rechnungen so zu formulieren, dass das gar nicht auffällt. Ebensowenig wie das Bestechungsgeld, das wir mit großem Sachverstand umleiten können – zur Not aufs Konto von unseren Mütterchen.
Einige von uns können sogar fiktive Firmen auf Tropeninseln gründen, damit die Finanzbehörden das viele Geld nicht finden. Und unser schönes Pilsen ist nicht mehr nur berühmt für das Bier, sondern für seine juristische Fakultät, wo man einen Doktortitel in einem halben Jahr erwerben konnte. Einige Glückspilze mit guten Kontakten haben es sogar schneller geschafft. In den wenigen Jahren, die uns zur Verfügung standen, haben wir ganze Landschaften rund um unsere Großstädte mit grauen Würfeln von Lagerhäusern und Logistik-Centern zubetoniert.
Die Übertschechen in ihren Schlössern
Wir wissen, dass die Politik, die so etwas möglich macht, einem Versteckspiel gleicht. Wir bewundern die Leute im Hintergrund, die die Marionetten bewegen und auf gut bewachten Schlössern im Grünen leben. Das sind die Übertschechen.
Was Europa anbelangt, sind wir immer noch genauso zerrissen wie die Kameraden von unserem Schwejk im Ersten Weltkrieg – etliche kämpften für Österreich-Ungarn, etliche dagegen. Das war keine üble Arbeitsteilung, denn so standen wir in jedem Fall auf der Seite der Sieger.
Nach derselben Methode haben wir uns ein proeuropäisches Parlament gewählt, während unser Präsident der berühmteste Anti-Europäer überhaupt ist. Ansonsten interessieren wir uns hauptsächlich für den eigenen Bauch, und Europa dient uns als Geldquelle. Wenn es aber um Solidarität geht, verschwinden wir in unsere Wälder und sammeln Pilze. Wir mögen es einfach nicht, wenn uns jemand in unser Heimwerkerleben hereinredet.
Die Übertschechen fahren derweil mit überhöhter Geschwindigkeit auf unseren holprigen tschechischen Autobahnen. Furchtlos schlängeln sie sich in Geländewagen mit abgedunkelten Scheiben zwischen Lastwagen mit spanischen Tomaten, ungarischen Paprika und polnischen Hühnchen hindurch und fahren dabei ihre auffälligen Kennzeichen spazieren. Die haben durchgehende Nummern wie 1111, 6666 oder 7777.
Ausländische Touristen sollten sich vor solchen Neureichen-Nummern besser in Sicherheit bringen. Anders als in Deutschland kann man in Tschechien solche Kennzeichen auf legalem Weg nämlich nicht erhalten. Alle diese Übertschechen – wir nennen sie wegen ihrer muskulösen Nacken auch „Dickhälse“ – müssen sich ihr Sonderzeichen im Verkehrsamt mit einer satten Aufzahlung unter der Hand besorgen.
Das ist nur eine Kleinigkeit, aber eine vielsagende. Wer so ein Nummernschild hat, der ruft in die Welt hinaus: Ich bin wer! Nimm dich vor mir in Acht! Das Zeichen sagt aber auch ganz offen: Ich bin ein Betrüger.
Unfallflucht! Und was geschah dann?
Für Nummern hat auch der Prager Geschäftsmann Roman Janousek eine Schwäche. Der anmutige Luxusgeländewagen, mit dem er sich in unserer Hauptstadt bewegt, verbirgt im Nummernschild diskret sein Geburtsdatum. Viel Glück hat es ihm nicht gebracht. Der Übertscheche Janousek, der ursprünglich Kellner war, ist bekannt als einer der einflussreichsten Paten der rechtsgerichteten Regierungspartei ODS.
Diesen Frühling rammte er in Prag auf einer Kreuzung volltrunken den Wagen einer Fahrerin und verletzte sie. Vom Unfallort versuchte er wie ein kleiner Junge davonzulaufen. Und was geschah dann? Nichts. Die Polizei ließ ihn, als sie ihn gefunden hatte, eine Weile telefonieren und brachte ihn hinterher auf der Wache zu einem Seitenausgang, damit ihm die Journalisten nicht die Laune verdürben. Zum guten Schluss nahm man ihm noch nicht einmal den Führerschein ab. Ein Normaltscheche wäre hinter Gittern gelandet.
Der beste Freund von Janousek heißt Pavel Bém. Als früherer Prager Bürgermeister – Primator heißt das bei uns – spielt er für die ODS in unserem Film mit. An seine Amtszeit erinnern sich am liebsten die Obdachlosen, denen er lächelnd jede Weihnachten auf dem Altstädter Ring die traditionelle Fischsuppe servierte. Man sagt, die sei sehr gut gewesen.
Bém machte sich auch als unerschrockener Jäger betrügerischer Taxifahrer einen Namen, als er sich einen Schnurrbart anklebte und als falscher Italiener ihre Dienste überprüfte. So läuft unser Kabarett nun mal.
Bém könnte auch gut die Rolle des furchtlosen Bergführers übernehmen. Für einen Übertschechen wie ihn ist unser Riesengebirge selbstverständlich viel zu flach. Er ist unsterblich durch seine Besteigung des Mount Everest, aber auch weil er als gelernter Arzt seine Stadt gehörig zur Ader ließ.
Ein poetischer Straßentunnel
Von allen genialen Projekten erinnern wir uns noch gut an jenen immer noch unvollendeten Straßentunnel mit dem poetischen Mädchennamen Blanka, der (oder die?) bei den Bauarbeiten bereits mehrere Male zusammenkrachte.
In derselben Zeit, in der man den Prager Bühnen die Zuschüsse dermaßen zusammenstrich, dass sie jetzt ums nackte Überleben kämpfen, verteuerte sich dieser Tunnel um immer neue Milliarden Kronen. Wahrscheinlich wurde da noch ein Privattunnel mit einem Ausgang in ganz tiefe Taschen gebohrt.Es waren die Gebrüder Josef und Karel Capek, die dem Tschechischen und den Weltsprachen das Wort „Roboter“ schenkten. Und es sind die Übertschechen von heute, die unsere wohlklingende Sprache nun um ein weiteres schönes Wort bereichert haben, das mit ihren Tricks zusammenhängt: Untertunnelung. Diese unterirdische Methode, Geld umzuleiten, könnten wir uns weltweit patentieren lassen.
Eine tschechische Komödie lebt von spritzigen Dialogen. Und gerade das kumpelhafte Duo Janousek und Bém hat sie uns geschrieben; wir finden sie in den polizeilichen Abhörprotokollen, die seit Monaten bei uns in den Medien verbreitet werden. Die Gespräche zeugen nicht nur von einer brüderlichen Beziehung, sondern auch vom Einfluss der Lobbyisten auf den Geschäftsgang in Prag.
Schoßhündchen. Kolibrichen
Oft nennen sich unsere Freunde bei Kosenamen, mit welchen es sich in keiner anderen Sprache so schön arbeiten lässt wie im Tschechischen: Katerchen, Schoßhündchen, Kolibrichen, Weltreisender (zum Himalaya), Kapitän (im Geländewagen). Diese Ausdrücke sind jetzt richtig volkstümlich geworden.
Allerdings sollten unsere Übertschechen mit dem Alkohol vorsichtiger umgehen. Der gute alte Schwejk trank noch Bier. Doch unsere Volksvertreter haben bei ihren Reisen durch Europa gelernt, teure Weine zu verkosten. Unser berühmtester Sommelier ist der Regionspräsident von Mitteltschechien, David Rath.
In seinem Heimatkreis herrschte der Sozialdemokrat unbeschränkt wie ein sibirischer Oligarch. Jedenfalls so lange, bis ihn die Gesetzeshüter mit einer Weinkiste ertappten – einer Geschenkbox, in der sich aber gar keine Flaschen befanden, sondern sieben Millionen Kronen in bar. Wohl die Gebühr für die eine oder andere Untertunnelung.
Die Antwort auf die Frage, wer denn im neuen tschechischen Filmknüller Regie führt, liegt auf der Hand. Das macht der Herr Ingenieur Professor Präsident Václav Klaus, der Hüter des Tschechentums. In unserer Komödie muss er unbedingt auch noch eines von seinen Zauberkunststücken vorführen, das bereits im Internet Millionen von Bewunderern gefunden hat: Wie Klaus beim Staatsbesuch in Chile vor den Augen der Fernsehkameras einen Füllhalter im Handumdrehen in der eigenen Tasche verschwinden ließ.
In den Hauptrollen des Films treten hauptsächlich Politiker auf. Es sind schließlich diese besten aller Tschechen, die wir alle vier Jahre zum Wohl des Vaterlands wählen. Wir anderen sitzen dieweil als Komparsen in der Kneipe und schwören beim Bier, das wir solche Leute niemals wählen würden. Und dann wählen wir genau dieselben Leute wieder.
Die anderen sind immer schuld
Wir schimpfen heute, wie wir einst auf die Kommunisten geschimpft haben. Und selbstverständlich schimpfen wir jetzt auch auf die Europäische Union, der wir alle vor ein paar Jahren nicht schnell genug beitreten konnten, bewegt und begeistert von der Rückkehr in die europäische Familie.
Heute vergleicht der eine oder andere Brüssel mit Moskau zu Zeiten von Leonid Breschnew. „Das liegt an dieser Union“, so hört man Tschechen oft voll Selbstmitleid seufzen, wenn irgendwas nicht klappt. Es ist seit Jahrhunderten dasselbe und gehört zur erträglichen Leichtigkeit unseres Seins, dass wir am liebsten Fremdherrscher für unsere Probleme verantwortlich machen. Unsere eigenen Regierenden dagegen sind manchmal weniger, aber immer öfter auch sehr lächerlich. Das hat sich seit Schwejk nicht geändert. Die einzige Gewissheit bleibt unser Bier, das natürlich das beste der Welt ist.
Europa ist indessen schwer erschüttert, und wer weiß, was noch alles kommt. Aber warum sollten wir uns nicht noch ein Weilchen mit unserer tschechischen Komödie amüsieren? Denn mit Komödien als Genre lebt es sich in Zeiten der Krise am besten. Vielleicht dreht Hollywood nach unserem Vorbild bald ein Remake, Hauptsache, es ist ironisch. Oder besser noch: selbstironisch.
Diese tschechische Selbstironie ist unser wahrhaftiger Beitrag zu Europa, und das ist keine Kleinigkeit. Immerhin hat sie uns zwischen Prag und Brünn lange Zeit vor dem Selbstmord bewahrt. Und wenn die Dinge schlimmer kommen, dann haben wir Tschechen für alle einen guten Rat. Machen wir es wie Schwejk und treffen uns auch nach dem Ende Europas abends um sechs in der Prager Kneipe „Zum Kelch“ auf ein Bier. Zum Wohl!
Aus dem Tschechischen von Dirk Schümer.
Jaroslav Rudis, Jahrgang 1972, ist einer der bekanntesten tschechischen Schriftsteller. Auf Deutsch erschien in diesem Jahr der Roman „Die Stille in Prag“ und, gemeinsam mit dem Zeichner Jaromir 99, die Graphic Novel „Alois Nebel“. Von Oktober an unterrichtet Rudis als Gastprofessor an der Berliner Humboldt-Universität.
Quelle: F.A.Z.
2.8.2012